Very British ist am deutschsprachigen Literaturmarkt gerade voll im Trend. Ein England-Krimi reiht sich an den nächsten und sie spielen um 1814, 1880, 1925,… und natürlich im Jetzt. Bei einer solchen gedanklichen Reise in ein fremdes Land gibt es auch viele Realia (also Besonderheiten des Ortes, die nicht wirklich übersetzbar sind), die den Leser vor Verständnisschwierigkeiten stellen können, aber gleichzeitig auch den Charme des Fremden ausmachen (beispielsweise das alte englische Währungssystem).
Was natürlich eine solche Besonderheit ausmacht, ist das englische System an Adelstiteln, das in beinahe allen Romanen vorkommt, die vor dem ersten Weltkrieg spielen und häufig auch noch danach. Da gibt es den Romanhelden Lord XY, auf der nächsten Seite wird aber vom Viscount gesprochen, der die Tochter eines Baronets heiraten möchte und dazu mit seinem Freund, dem Ehrenwerten So und So einen Plan schmiedet, um die Angebetete von seinen Gefühlen zu überzeugen, auch wenn ein Duke um sie wirbt. Wer ist wer? Und warum sollte der Duke besser als der Viscount/Lord sein?
Der Schlüssel zu diesem Rätsel liegt im komplexen System an englischen Adelstiteln, das durch eine strenge Hierarchie gekennzeichnet ist. Man kann sich das System ganz einfach vorstellen: Wer weiter oben auf der Leiter steht, steht über denen darunter, ist daher wichtiger und somit heiratswerter als die darunter. (Ja, damals war es halt noch einfach, den perfekten Mann zu finden – profane Dinge wie Charakter und, je weiter oben auf der Leiter, Aussehen waren zweitrangig :))
Das System der Adelstitel
Was ich fast noch vergessen hätte zu erwähnen: Adelstitel beziehen sich immer nur auf Männer. Eine Frau war vor ihrer Hochzeit lediglich die Tochter eines Duke/Viscount/… und mit ihrer Hochzeit nahm sie den Titel ihres Ehemanns an. Heiratete die Tochter eines Adeligen einen Bürgerlichen (was für eine schlechte Partie!), wurde auch sie zur Bürgerlichen und verlor damit viele Privilegien des Adels. So, aber nun zum System:
Prinzipiell ist im englischen System schon einmal zwischen höherem Adel (Peers) und niedrigerem Adel (Gentry) zu unterscheiden. Bleiben wir kurz mal beim niederen Adel, das ist überschaubarer, denn es gibt nur zwei Titel:
Knights | Baronet | |
Anrede | Sir + Nachname
Lady + Nachname |
Sir + Nachname
Lady + Nachname |
Besonderheiten | Titel nicht vererbbar, wird individuell verliehen | Titel wird an den ältesten männlichen Nachkommen vererbt |
Knights und Baronets sind in dem Sinne gleichwertig in der sozialen Stellung. Komplizierter wird es jetzt allerdings mit den Peers. Den Peers ist jeweils gemein, dass sie (sogar bis 1999) alle einen Sitz im britischen House of Lords hatten (den jedoch nicht alle aktiv wahrnahmen).
Lord ist die allgemeine Bezeichnung für einen männlichen Peer.
Das Peerage-System umfasst fünf Stufen, also Titel, die hier in ihrer Hierarchie dargestellt werden:
Duke > Marquess > Earl > Viscount > Baron
Was hier vielleicht als erstes auffällt: Prince oder Princess sind in dieser Aufzählung nicht dabei. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es sich dabei lediglich um Bezeichnungen für die Nachkommen bzw. die Gattin/den Gatten des regierenden Monarchen handelt. Das sind sozusagen Ehrentitel. So ist Prinz Charles der Prince of Wales. Die Nachfahren des Monarchen waren nicht automatisch auch Adelige, aber üblicherweise wurde ihnen ehrenhalber ein Adelstitel verliehen. Prinz Charles ist als britischer Thronfolger zudem der Duke of Cornwall.
Die folgenden Gepflogenheiten gelten für alle Mitglieder der Peerage, wobei natürlich die Hierarchie zu beachten ist:
Unter Peers wird ein Peer angesprochen mit „Lord + Name“, zum Beispiel „Lord Gascoigne“. Ausnahme: Ein Duke wird immer mit „Duke of + Name“, z. B. Duke of Wellington, angesprochen.
Die Kinder eines Peers sind formal gesehen Bürgerliche, keine Adeligen. Daher wird in Büchern auch von jemandem als „der Sohn eines Viscounts“ gesprochen, denn „mehr“ war er nicht. Es haben sich jedoch sogenannte „Höflichkeitstitel“ eingebürgert.
Der älteste Sohn eines Duke/Marques/Earl wird der Höflichkeit halber mit dem zweiten Titel des Vaters angesprochen (ja, man hatte oft mehrere). Erst wenn der Vater verstarb und der Titel an den Sohn überging, wurde er zum Adeligen. Sehr verwirrend, wenn in einem Roman von einer Familie eines Marquess gesprochen wird und der älteste Sohn dann plötzlich nur der Viscount ist und man erst mal überlegen muss, woher jetzt plötzlich der Viscount kommt…
Die anderen Söhne des Duke/Marques/Earl werden ehrenhalber als „Lord + Vorname + Nachname“ angesprochen.
Alle Söhne eines Viscount/Baron werden The Honorable XY (Der Ehrenwerte XY) angesprochen. (So begleitet in Clarissa und die unverheirateten Frauenzimmer der Ehrenwerte Charles Booth, Sohn eines Barons (nicht der älteste!), den Earl of Grandiston bei seinem Abenteuer).
Eine Ehefrau wurde als Lady + Familienname des Mannes angesprochen. Töchter, Schwestern oder andere weibliche Verwandte wurden als Lady + Vorname angesprochen. Die Witwe eines Peers wurde zur Dowager Lady + Familienname. Wenn der Sohn, der den Titel erbte, noch nicht verheiratet war, blieb die Dowager Lady im Familiensitz wohnen. Heiratete der Sohn und gab es sozusagen eine neue Lady XY, übersiedelte die Dowager Lady in das Dower House, den Witwensitz – ein Haus/Anwesen, das sich ebenso auf den Ländereien seiner Lordschaft befand.
Eine Frage der Übersetzung
Bei der Übersetzung von Romanen, in denen auf das Adelssystem angespielt wird, stellt sich natürlich die Frage der korrekten Übersetzung. Wie schon so häufig in anderen Artikeln erwähnt, geht es zum einen darum, dem Leser möglichst viel von diesem fremden Charme des Unbekannten mitzugeben, zum anderen soll das Leseerlebnis allerdings auch angenehm und möglichst unanstrengend sein.
Für alle Adelstitel gäbe es deutsche Bezeichnungen: Duke = Herzog; Marquess = Marktgraf; Earl = Graf etc. Diese deutschen Wörter existieren, weil es natürlich auch im deutschsprachigen Raum ein Adelssystem gab. Es ist jedoch nicht so, dass diese Bezeichnungen jeweils genau Deckungsgleich sind. Ein Blick in ein gutes Online-Wörterbuch zeigt bereits bei Earl die Übersetzung (englischer) Graf. Ein Earl und ein Graf sind nämlich nicht zwangsläufig das Gleiche. Was tun?
Wie immer gibt es zwei Übersetzungsstrategien: Entweder man wählt das deutsche Wort Graf, unter dem ein deutschsprachiger Leser vielleicht mehr versteht, auch wenn es nicht 1:1 das Gleiche ist, aber seien wir ehrlich, das ist bei einem Liebesroman auch nachrangig. Oder man verwendet die englische Bezeichnung. Der Leser des Genres wird schnell verstehen oder weiß bereits vielleicht, dass Earl ein Adelstitel ist und der Träger somit sozial hochgestellt ist. Mehr wissen wir im Grunde genommen vom Wort Graf ja auch nicht, denn wenn wir ehrlich sind, wer von uns – die wir nicht mehr im Adelssystem aufgewachsen sind – kennt wirklich den Unterschied zwischen Graf und Herzog (und die Antwort, der Graf steht einer Grafschaft vor, der Herzog einem Herzogtum, zählt nicht :)) Wir wissen also auch nur, dass es sich dabei um Adelstitel handelt.
Ich habe daher in meinen Übersetzungen immer die Strategie gewählt, die englische Bezeichnung zu lassen. So kann ich den englischen Charme beibehalten. Es wirkt doch gleich viel prunkvoller, wenn sich die schöne Frau in einen Earl verliebt und nicht in einen Grafen, oder? Genauso verhält es sich bei Lord und Lady. Zudem wäre es auch gar nicht korrekt, das zum Beispiel mit Herr oder Dame zu übersetzen. Ein Lord ist ein Lord, ein britischer Adeliger mit Sitz im House of Lords. Natürlich gibt es dafür kein deutsches Pendant, denn wir haben kein House of Lords. Daher muss es ein Lord bleiben.
Bei The Honorable habe ich mich allerdings für den Ehrenwerten entschieden, denn ich glaube, dass das für den Leser leichter verständlich und im Allgemeinen gängiger ist. Außerdem hätte ich das Problem mit dem Artikel, den ich im Deutschen immer wieder an die Grammatik anpassen muss: Er reichte dem Honorable Charles Booth die Hand? Nein, das ist ungünstig. Da wähle ich lieber das deutsche Wort: Er reichte dem Ehrenwerten Charles Booth die Hand. Klingt doch schon besser.
Hoffentlich hilft euch der Artikel, ein bisschen klarer im Gewirr der englischen Adelstitel zu sehen, vielleicht sogar während eine meiner Übersetzungen von Alicia Cameron lest. Viel Spaß!
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